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Interview mit Al Jazeera Balkans

03.03.2020 - Interview

Im Interview mit Al Jazeera Balkans spricht die deutsche Botschafterin Margret Uebber über das neue Fachkräfteeinwanderungsgesetz, das Engagement Deutschlands in BiH, die wirtschaftliche und sonstige Zusammenarbeit sowie andere aktuelle Themen.


Botschafterin Margret Uebber
Botschafterin Margret Uebber© J. Agović/Deutsche Botschaft Sarajewo

Sehr geehrte Frau Botschafterin, herzlichen Dank für dieses Interview. Die erste Frage bezieht sich auf ein Thema, das in den letzten Tagen und Wochen den Balkan und Deutschland am meisten verbindet: Was passiert am ersten März? Was bringt dieses Datum für Arbeiter aus den Balkanländern in Deutschland?

Antwort:

Über diesen Tag wird hier tatsächlich sehr viel gesprochen, daher freue ich mich über die Gelegenheit, hier einige Dinge zu erklären und klarzustellen.

Am ersten März tritt das neue deutsche Fachkräfteeinwanderungsgesetz in Kraft. Das Gesetz erweitert die bestehenden Regeln zur Einwanderung. Es richtet sich vor allem an Menschen mit einem Hochschulabschluss oder einer qualifizierten Berufsausbildung. Wichtig ist: der Abschluss muss in Deutschland anerkannt worden sein, erst dann kann man die Möglichkeiten aus dem Gesetz zur Erlangung eines Aufenthaltstitels wahrnehmen.

Inwieweit wird es für Bürger aus der Region ab dem ersten März leichter sein, in Ihrem Land eine Arbeit zu finden, zu bekommen und zu behalten?

Antwort:

Es gibt einige Erleichterungen für Personen mit Hochschulstudium oder anerkannter Berufsausbildung. Zum Beispiel können in Zukunft Fachkräfte aus allen Arbeitsbereichen einwandern. Die Beschränkung der Einwanderungsmöglichkeit auf bestimmte, klar definierte Mangelberufe fällt weg. Außerdem wird nicht mehr untersucht, ob für den jeweiligen konkreten Arbeitsplatz stattdessen auch Arbeitskräfte aus Deutschland oder der EU zur Verfügung stehen.

Eine weitere Neuerung: Wer eine Anerkennung seiner Ausbildung hat, kann künftig nach Deutschland einreisen, um dort einen Arbeitsplatz zu suchen. Und junge Menschen unter 25 können nach Deutschland einreisen, um sich bei uns einen Ausbildungsplatz zu suchen und dort dann auch ihre Berufsausbildung zu machen.

Bei all diesen Erleichterungen möchte ich aber auch klarstellen: Der Weg führt weiterhin über die Botschaft hier in Sarajewo. Personen, die die Möglichkeiten aus dem neuen Gesetz nutzen wollen, sollten zuerst in Deutschland die Anerkennung beantragen. Wenn diese vorliegt, müssen sie an der deutschen Botschaft einen Visumantrag stellen. Und noch eins: für alle, die keinen anerkannten Hochschulabschluss oder Ausbildung besitzen, gelten die bestehenden Regeln zur Einwanderung weiter.

Wie viele Arbeiter sucht Deutschland momentan, was sind die Mangelberufe? Ich nehme an, es geht nicht nur um medizinische Berufe.

Antwort:

Sie haben Recht, es geht nicht nur um medizinische Berufe – aber auch. Daneben suchen deutsche Arbeitgeber vor allem Mitarbeiter in den sogenannten MINT-Berufen, also in den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik. Aber auch handwerkliche Berufe sind sehr gefragt! Insgesamt sind momentan rund 1,2 Millionen Arbeitsplätze in Deutschland nicht besetzt. Dabei fehlen nicht nur Hochschulabsolventen, sondern zunehmend auch Fachkräfte mit qualifizierten Berufsausbildungen. Dies sind Berufe, für die in Deutschland eine mindestens zweijährige Ausbildung vorgeschrieben ist.

Monatelang hielten die politischen Umwälzungen, Besprechungen und Verhandlungen in BiH an.

Wollten die gewählten Kandidaten Ihrer Meinung nach Zeit gewinnen oder konnten sie sich wirklich nicht einigen?

Antwort:

Die Regierungsbildung nach den Wahlen gestaltete sich aufgrund unterschiedlicher Positionen der Parteien zu sehr wichtigen und grundlegenden Fragen sehr schwierig. Leider haben wir aber auch im Wahlkampf und nach den Wahlen von vielen Politkern immer wieder extreme Forderungen und unversöhnliche Rhetorik gehört. Im Ergebnis hat das Land viel Zeit verloren, um wichtige Reformen für den Weg in die EU voranzubringen. Die klare Lehre aus dieser Erfahrung muss deshalb sein: spaltende, scharfe Rhetorik bringt das Land nicht weiter. Stattdessen sollten sich Politiker verantwortungsvoll und konstruktiv verhalten. Das muss für die Zukunft gelten – gerade vor dem Hintergrund der nun verloren gegangenen Zeit.

Wie kommentieren Sie den Trend der Auswanderung junger Menschen aus BIH? Welche Faktoren führen Ihrer Meinung nach dazu, dass sie sich zu diesem Schritt entschließen?

Antwort:

Die Abwanderung junger Menschen aus BIH beobachten wir sehr aufmerksam.

Dass viele dieser Menschen nach Deutschland gehen, ist zum einen ein Vertrauensbeweis in mein Land. Andererseits sehe ich auch die Folgen, die die hohe Abwanderung für die Zukunft BIHs hat. Deshalb engagiert sich Deutschland auch stark, um hier im Land Perspektiven für die Menschen zu schaffen. Wir sind der größte bilaterale Geber und arbeiten vor allem in den Bereichen Energie, Reform der öffentlichen Verwaltung und Privatwirtschaftsförderung. Vor allem bringen wir uns mit unserer Expertise in der praktischen Berufsausbildung ein: junge Menschen sollen sich in der Ausbildung nicht nur mit Theorie befassen, sondern vor allem auch die praktischen Fähigkeiten erlenen, die dann auf dem Arbeitsmarkt in BIH auch benötigt werden. Das soll ihnen den Einstieg in den hiesigen Arbeitsmarkt erleichtern.

Was soll BiH tun, damit junge Arbeitnehmer und junge Familien in BiH bleiben? Liegt es am Staat oder an der Gesellschaft oder liegt es auch an denjenigen, die aus BiH gehen möchten, sobald sie ihre Ausbildung beenden, bevor sie einen Versuch unternehmen, hier eine Arbeit zu finden?

Antwort:

Die persönliche Entscheidung von einzelnen Personen, ihr Heimatland zu verlassen und eine bessere Zukunft anderswo zu suchen, möchte ich nicht bewerten. Das macht sich niemand leicht. Von Menschen, die vor hier aus in Richtung Deutschland aufbrechen, hören wir immer wieder, dass bei dieser Entscheidung nicht nur ökonomische Gründe eine Rolle spielen, sondern eben auch politische und gesellschaftliche. Da geht es um Bildungs- und Gesundheitssystem, Chancengleichheit, Rechtstaatlichkeit und Korruption. Für mich sind in erster Linie die politischen Entscheidungsträger gefragt, die Bedingungen zu verbessern und beispielsweise die auch mit der EU entwickelten sozioökonomischen Reformen umzusetzen. Sie müssen glaubwürdige Fortschritte im Bereich Rechtstaatlichkeit erzielen und Interessenkonflikte bekämpfen. Dafür braucht es echten politischen Willen.

Natürlich kann auch jeder Einzelne zur positiven Entwicklung seines Landes etwas beitragen, beispielsweise, indem er sich engagiert oder bei den anstehenden Wahlen von seiner Stimme Gebrauch macht. Ich treffe hier auch immer wieder mutige Menschen, die für Gerechtigkeit eintreten, oder innovative Unternehmer, die Ideen umsetzen.

Sie waren lange auf dem Balkan im Amt. Wie sehen Sie BiH in dieser Region? Hat es seine Chancen zur Weiterentwicklung seit dem Kriegsende wahrgenommen?

Antwort:

Seit Kriegsende ging es zunächst darum, Stabilität und Grundversorgung aufrecht zu erhalten, und das ist gelungen. Besonders in den letzten Jahren gibt es auch Wirtschaftswachstum und die Arbeitslosigkeit sinkt. Aber: das Wirtschaftswachstum ist nicht ausreichend, um mittelfristig mit der EU aufzuschließen. Und es gab auch politisch viele verpasste Chancen. Viele dieser Versäumnisse lassen sich damit erklären, dass es an Kompromissfähigkeit und echtem Willen zur Zusammenarbeit fehlt. Ein kleines Beispiel dafür sind die zahlreichen EU-Gelder in Form von IPA-Mitteln, die BIH nicht abrufen kann, weil die man sich hier nicht auf eine gemeinsame Strategie einigen konnte. So gehen dem Land viele Möglichkeiten verloren.

Ist BiH auf dem richtigen Weg in die EU, in die NATO...?

Antwort:

Deutschland ist ein klarer Befürworter der EU- und NATO-Integration Bosnien und Herzegowinas. Aber es gibt ganz klare Regeln und Vorgaben, die ein Land erfüllen muss, bevor es diesen beiden Organisationen beitreten kann. In Bezug auf die EU bilden insbesondere die sozio-ökonomische Reformagenda und die 14 Prioritäten aus der Opinion der Kommission eine gute Orientierung für BIH, welche Schritte nun unbedingt umgesetzt werden müssen. Wir haben viele Bekenntnisse gehört bezüglich des Willens, sich der EU anzunähern. Nun müssen wir auch Taten sehen.

Deutschland ist eine der Schutzmächte des Dayton-Abkommens. Ist es an der Zeit, Verfassungsänderungen und sonstige Änderungen in BIH vorzunehmen? Soll das offizielle Berlin (mithilfe anderer Schutzmächte) Teil dieser Änderungen sein?

Antwort:

Der große Verdienst des Abkommens von Dayton war es, den Krieg in Bosnien und Herzegowina zu beenden und stabile Verhältnisse für einen multiethnischen Staat zu schaffen.

Genauso klar ist aber auch, dass sich die Verfassung, die damals beschlossen wurde, weiterentwickeln muss. Verfassungen sind lebendige Dokumente, die immer den Zeitgeist der Gesellschaft abbilden.

Hinzu kommen notwendige Anpassungen, die sich aus eingegangenen internationalen Verpflichtungen ergeben. Hierzu zählt bspw., dass Bosnien und Herzegowina die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte umsetzen muss oder auch einige Anpassungen, die auf dem Weg in die Europäische Union vorgenommen werden müssen.

Deutschland wird Bosnien und Herzegowina bei den Herausforderungen mit Rat und Tat zur Seite stehen!

Wichtig ist mir aber auch zu sagen, dass das System an sich nicht dysfunktional ist oder automatisch zu Blockaden führt. Vielmehr sind es einzelne politische Akteure, die die Eigenheiten des Systems für ihre Zwecke ausnutzen und wichtige Entscheidungen zum Nachteil der Bevölkerung verhindern oder verzögern.

Wie sehen Sie die wirtschaftliche und sonstige Zusammenarbeit zwischen Deutschland und BIH. Wie könnte sie noch besser werden?

Die Zusammenarbeit zwischen unseren beiden Ländern ist sehr vielseitig und eng, gerade im wirtschaftlichen Bereich. Wir sind zum Beispiel der größte bilaterale Handelspartner mit einem Handelsvolumen von über 1,7 Mrd. €. Viele deutsche Firmen sind vor Ort aktiv und schaffen hier Arbeitsplätze. Es gäbe sicher noch mehr deutsche Firmen, die Interesse hätten, in BIH aktiv zu werden. Dazu müssten sich Investitions- und Geschäftsklima hier aber noch deutlich verbessern. Das Fazit ist also: wir haben eine gute Basis, auf der wir aufbauen sollten!






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